Crews - 2006 - 01

Crews, D., W. Lou, A. Fleming & S. Ogawa (2006): From gene networks underlying sex determination and gonadal differentiation to the development of neural networks regulating sociosexual behavior. – Brain Research 1126(1): 109-121.

Von Gennetzwerken, die der Geschlechtsbestimmung und der Gonadendifferenzierung zugrunde liegen, bis zur Entwicklung der neuronalen Netzwerke, die Sozial- und Geschlechtsverhalten regulieren

DOI: 10.1016/j.brainres.2006.07.031 ➚

Gene werden genauso wenig isoliert exprimiert, wie Sozialverhalten außerhalb einer Gesellschaft seine Bedeutung verliert. Beides, Gene und Sozialverhalten befinden sich in einem dynamischen Fluss mit der Umwelt, in der sich das Gen/Individuum befindet, wodurch zeitliche Muster und Bedingungen der Expression entstehen. Das bedeutet, dass komplexes Verhalten und die dazugehörigen genetischen Grundlagen als kumulativer Prozess gesehen werden sollten, oder als ein Ergebnis von Erfahrungen bis zum jeweiligen Zeitpunkt, die zeitgleich dazu dienen, die Bedingungen für das, was noch kommen wird, vorzugeben. Die Befunde zeigen an, dass sich die Erfahrungen während des Lebens akkumulieren, wobei frühe Erfahrungen vorgeben, wie Gene/Individuen sich später verhalten werden, während spätere Erfahrungen die Auswirkungen, die sich aus dem Vorhergehenden ergaben, modifizieren. Es wird eine Methode zur graphischen Darstellung und zur Analyse von Veränderungen bei Genen und innerhalb der neuronalen Netzwerke vorgestellt. Ergebnisse von mehreren Tiermodellen werden beschrieben, um die Methoden zu illustrieren. Als erstes wenden wir uns dem Phänomen der temperaturabhängigen Geschlechtsbestimmung bei Reptilien zu. Wir zeigen, wie die Erfahrung einer bestimmten Temperatur während einer sensitiven Periode innerhalb der Embryonalentwicklung nicht nur das Expressionsmuster der Gene formt, die direkt in die Geschlechtsfestlegung und die Ausdifferenzierung der Gonaden involviert sind, sondern wie gleichzeitig Gene reguliert werden, welche die Morphologie, Physiologie, Neuroendokrinologie und das Verhaltensmuster des adulten Phänotyps steuern. Das zweite Modellsystem richtet seinen Fokus auf die Auswirkungen, die das Geschlechterverhältnis innerhalb eines Wurfs von Ratten hat. Gleichzeitig betrachten wir, welche Auswirkungen das Verhältnis von verschiedenen Genotypen innerhalb eines Wurfs von Mäusen auf die Art und die Häufigkeit der mütterlichen Fürsorge hat und wie diese Fürsorge das Muster der Aktivierung von identifizierten neuronalen Schaltkreisen beeinflusst, die bei den Nachkommen dazu dienen, ihr späteres Sozial- und Sexualverhalten als Adulti vorzugeben.

Kommentar von H.-J. Bidmon

Warum dieses Abstrakt, das sich doch gar nicht mit Schildkröten befasst und bestenfalls im Bezug zur temperaturabhängigen Geschlechtsbestimmung steht, wie sie unter anderem auch bei vielen Schildkröten vorkommt? Nun, diese Arbeit fordert dazu auf, einmal über grundsätzliche Zusammenhänge nachzudenken, und es sollte uns allen klarmachen, wie in jedem Organismus eigentlich alles mit allem im Zusammenhang steht. Das ist etwas, das wir oft außen vor lassen – wenn man sich die Argumentationen einmal durchdenkt, die man so hört und liest. Ein einfaches Beispiel: Man kann sich eben beispielsweise bei einer entsprechenden Erkrankung nicht nur auf die Lungenfunktion konzentrieren, denn allen ist wohl klar, dass Sauerstoffmangel und mangelnde Kohlenstoffdioxidabgabe den ganzen Körper betreffen. Ebenso steht es mit der Nahrung, die beeinflusst auch nicht nur den Magen-Darm-Kanal und die direkt in die Verdauung einbezogenen Organe, sondern den ganzen Organismus. Ebenso ist es hier, nur dass in dieser Arbeit beschrieben wird, wie sich Einflüsse, die sich sehr früh während der Embryonalentwicklung oder kurz nach der Geburt einstellen, auf das Leben der erwachsenen Individuen auswirken. Etwas, das gerade auch im Hinblick auf Sozialverhalten bei Schildkröten oft kontrovers diskutiert wird. Sicher muss man hierzu in Betracht ziehen, dass jede Art ihr arteigenes, meist der Umwelt angepasstes Verhaltens- und Reproduktionsmuster hat. Aber wir sollten auch sehen, dass die Umwelt auf diese Muster einen Einfluss hat, und da sind wir an dem Punkt angelangt, wo es für jeden Terrarianer und Zootierarzt interessant wird! Denn jede Art von Gefangenschaftshaltung stellt ja in der einen oder anderen Form eine Umweltveränderung dar. Auch die diversen artifiziellen Inkubationsmuster für Reptilien- bzw. Schildkröteneier haben ihre Auswirkungen und können zu Veränderungen (oder gar unnatürlichen Veränderungen) z. B. bei der späteren Wachstumsrate führen (siehe Spencer et al. (2006)) oder das Aggressionsverhalten beeinflussen. Auch das Sozialverhalten zumindest bei jenen Schildkrötenarten für die ein Zusammenleben mehrer Individuen im gleichen Habitat auch unter natürlichen Bedingungen angezeigt ist, kann sich dahingehend verändern, wenn solche Tiere einzeln gehalten werden. Ja, es kann sogar zu unnatürlichen Veränderungen im Verhalten kommen, bei Arten, die aus welchen Gründen auch immer, in ihrer natürlichen Umgebung als semiadulte und adulte Schildkröten als „Einzelgänger“ leben, wenn man sie nach dem Schlupf zu früh trennt. Denn wenn es zur natürlichen Entwicklung dieser Tiere gehört, dass sie nach dem Schlupf erst einmal eine gemeinsame „soziale“ Phase mit ihren Gelegegeschwistern durchlaufen, und wir diese bei Gefangenschaftshaltung zu früh unterbrechen, brauchen wir uns nicht zu wundern, wenn es später zu Problemen oder Hyperaggressivität im Umgang mit Geschlechtspartnern kommt. Und eines, wenn es sich auch noch so banal und unwissenschaftlich anhören mag, sollte auch klar sein: Bei höheren sich geschlechtlich fortpflanzenden Lebewesen kann es keine Einzelgänger geben, denn die würden aussterben (denn der Begriff Einzelgänger ist keine biologische Angabe sondern eine vom Menschen erdachte abstrakte Bezeichnung, die lediglich besagt, dass bei einer bestimmten Spezies das Territorium des einzelnen Individuums relativ groß ist. Eben so groß, dass man selten zwei oder mehrere Individuen zusammen sieht, und es meist nicht möglich ist, mehrere Individuen in kleineren Territorien gemeinsam zu halten). Aber auch solche oft fälschlicher oder besser „abstrakter“ Weise als Einzelgänger bezeichneten Lebensformen haben Methoden zur innerartlichen Kommunikation und ein arteigenes Verhaltensrepertoire entwickelt, um mit ihren Konkurrenten und Sexualpartnern an den Grenzgebieten ihrer Territorien zu kommunizieren. Wie das zu geschehen hat, lernen junge Säugetiere, wenn nicht von der Familien- oder Herdengemeinschaft, dann doch von ihren Müttern und Geschwistern und bei elternlos aufwachsenden Reptilien eben gar nicht oder im anfänglichen Kontakt zu Gelegegeschwistern, wobei jegliche Art von Übergangsformen bis hin zur Nachwuchsfürsorge (siehe Alligatoren) vorkommen können. Diese Arbeit weist aber indirekt noch auf etwas hin nämlich, dass sich Gene und deren Expressionsmuster anpassen und verändern können (siehe oben). Wenn es also solche dynamischen Muster gibt, dann ist auch der Prozess der „Artenbildung“ eigentlich nichts Statisches oder Feststehendes, woraus etwas definitiv Festgelegtes hervorgeht, und deshalb ist der Artbegriff als feststehender Begriff – wie wir ihn oft ansehen – ein abstraktes vom Menschen erdachtes Hilfsmittel zur Kategorisierung und Beschreibung der belebten Umwelt. Wenn wir endlich einmal anfangen würden, das was uns die Systematiker als Arten oder neue Arten präsentieren, als einen dynamischen Anpassungsprozess des Vorhandenen anzusehen, der z. B. bei wechselwarmen Reptilien je nach Klimaverschiebung wieder in die eine oder die andere Richtung laufen kann, weil vorübergehend vorhandene, trennende Barrieren zwischen Arten/Populationen etc. plötzlich wieder wegfallen, dann könnten wir auch eine etwas andere Sichtweise für das zulassen, was uns so viele moderne Systematiker als neue Arten präsentieren wollen. Solche neuen Arten, die insbesondere bei den Schildkröten anhand kleinster Veränderungen im genetischen Code des einen oder anderen Gens charakterisiert sein sollen, wobei sich die Unterschiede oft nur mit Hilfe aufwändiger, statistischer Verfahren nachweisen lassen, könnten auch einfach eine an eine etwas andere Umwelt angepasste Population darstellen. Denn auch ohne all diese molekulargenetischen Feinheiten ist doch jeder von uns in der Lage, einen Afrikaner oder Chinesen vom Westeuropäer zu unterscheiden und trotzdem handelt es sich nur um eine Art, Homo sapiens. Der afrikanische Homo sapiens ist eben an etwas intensivere Sonneneinstrahlung angepasst und hat dadurch einen dunkleren Teint und dichte krause Haare, während wir im Norden hellhäutig sind, weil wir sonst bei unseren Lichtverhältnissen zu schnell rachitisch geworden wären. Auch diese Unterschiede werden über Gene und Hormone in unserem Körper geregelt. Nicht zuletzt möchte ich anmerken, dass diese Arbeit aus der Feder eines unserer besten und international angesehensten Wissenschaftler zur Neuroendokrinologie und Verhaltensforschung bei Reptilien stammt. Auch insofern sicher eine Arbeit, die jeder/jedem, die/der sich berufen fühlt, mal etwas weiter über den Tellerrand seines Hobbys hinaus schauen zu wollen, einen Einstieg in die aktuelle Literatur bieten kann. Das eigentliche Problem, was wir in Terrarianerkreisen doch oft haben, besteht nicht darin, dass Terrarianer nicht gewillt sind, sich weiterzubilden oder dazuzulernen, sondern, dass es viel zu viele Personen gibt, die ohne sich wirklich international und wissenschaftlich fundiert kundig zu machen, ihre eigene Meinung als die einzig wahre anpreisen. Gerade solche Arbeiten, wie die hier vorgestellte, zeigen uns deutlich, wie komplex die Themen eigentlich sind und wie und wo wir uns selbst Informationen beschaffen können, die es jedem ermöglichen sollten, sich ein eigenes, unabhängiges und durchaus kritisches Bild zu machen. (siehe auch Tracy et al. (2006)).
(Interessant in diesem Zusammenhang sind auch die Arbeiten und die Kommentare zu Fritz et al. (2007) und Gerlach et al. (2006)).

Literatur

Fritz, U., A. K. Hundsdörfer, P. Široký, M. Auer, H. Kami, J. Lehmann, L. F. Mazanaeva, O. Türkozan & M. Wink (2007): Phenotypic plasticity leads to incongruence between morphology-based taxonomy and genetic differentiation in western Palaearctic tortoises (Testudo graeca complex; Testudines, Testudinidae). – Amphibia-Reptilia 28(1): 97-121 oder Abstract-Archiv.

Gerlach, J., C. Muir & M. D. Richmond (2006): The first substantiated case of trans-oceanic tortoise dispersal. – Journal of Natural History 40(41-43): 2403-2408 oder Abstract-Archiv.

Spencer, R. J., F. J. Janzen & M. B. Thompson (2006): Counterintuitive density-dependent growth in a long-lived vertebrate after removal of nest predators. – Ecology 87(12): 3109-3118 oder Abstract-Archiv.

Tracy, C. R., K. E. Nussear, T. C. Esque, K. Dean-Bradley, C. R. Tracy, L. A. DeFalco, K. T. Castle, L. C. Zimmerman, R. E. Espinoza & A. M. Barber (2006): The importance of physiological ecology in conservation biology. – Integrative and Comparative Biology 46(6): 1191-1205 oder Abstract-Archiv.