Sulloway - 2009 - 01

Sulloway, F. J. (2009): Tantalizing tortoises and the Darwin-Galapagos Legend. – Journal of the History of Biology 42(1): 3-31.

Beeindruckende Landschildkröten und die Darwin-Galapagos-Legende.

DOI: 10.1007/s10739-008-9173-9 ➚

Während seines historischen Galapagosbesuchs in 1835 verbrachte Darwin neun Tage auf der Insel Santiago (James Island), um wissenschaftliche Beobachtungen zu machen und um Belege zu sammeln. Dabei besuchte er auch zweimal das Hochland von Santiago. Dort, nahe der in unmittelbar Nähe des Gipfel liegenden Quellen, führte er seine ausführlichsten Untersuchungen über die Galapagosschildkröten durch. Die genaue Lage dieser beschriebenen Quellen war bislang nicht bekannt, und sie werden hier unter Berücksichtigung von Darwins Originalaufzeichnungen, Satellitenkarten und der GPS-Technologie identifiziert. Zudem werden wiederholt angefertigte fotographische Daten aus vier Dekaden ausgewertet, die eindrucksvoll belegen, wie verheerend sich die Einfuhr fremder Säugetiere und Haustiere, die nach Darwins Besuch erfolgte, auf die Biotope auswirkte. Die Untersuchung des Einflusses, den Darwins Besuch auf Santiago – insbesondere dieser Aufenthalt im Hochland – auf seine Art zu denken hatte, wirft interessante Fragen bezüglich der Tiefe seines Verständnisses der Befunde zur Evolution auf, die er während seines Galapagosaufenthalts sammelte. Diese Fragen und weitere darauf bezogene Einsichten liefern zusätzliche Erkenntnisse, die den Zeitpunkt von Darwins Umdenken hin zu einer Evolutionstheorie belegen, was trotz konträrer Meinungen erst nach seiner Rückkehr nach England erfolgte.

Kommentar von H.-J. Bidmon

Liebe Leserinnen und Leser, diese Arbeit enthält zwei wesentliche Aspekte. Der erste bezieht sich auf eine gute Methode und Beweisführung bezogen auf die Biotopveränderungen, die seit Darwins Besuch auf Santiago stattfanden und die im wesentlichen durch die Einfuhr von Säugetieren, Mäusen, Ratten, Eseln, Ziegen und Schweinen verursacht wurden. Hier beschreibt der Autor den Nutzen und die Auswertung von Berichten, Fotographien und gezeichneten Bildern, die während dieser vergangenen Perioden angefertigt wurden – wobei die fotografischen Belege der letzten Jahre dazu benutzt werden, den klaren Beweis zu führen und zu untermauern, dass die historischen Belege bezogen auf die Erfassung des Ausmaßes der Veränderungen (siehe auch: Saenz-Arroyo et al. 2006) wirklich gleichwertig mit den Fotodokumenten der letzten Jahre sind. Der zweite Aspekt bezieht sich auf Darwin, seine Methoden und seinen Erkenntnisgewinn selbst.
Das Darwinjahr neigt sich dem Ende zu, und insofern ist es vielleicht ganz gut, die besinnlichen Festtage oder den Jahreswechsel zum Überdenken der Situation und etwas Wissenschaftsphilosophie zu nutzen. Warum Wissenschaftsphilosophie und nicht Wissenschaftsgeschichte, wie das oben angeführte Journal eher implizieren würde? – Nun, weil der so genannte Zeitgeist sowohl heute wie auch zu Darwins Zeiten die Wissenschaft beeinflusst. Wie der Autor ausführt, waren es der Gouverneur Lawson von der Insel Floreana und die Spanier, die Darwin erzählten, dass sie die verschiedenen Formen der oft auf den Schiffen als Proviant anzutreffenden Riesenschildkröten nach ihrer Form der Herkunftsinsel zuordnen können. Genauso wie es der Ornithologe Gould war, der Darwin zuhause in England klarmachte, dass die gesammelten „Darwinfinken“ alles Finken waren, ebenso wie ihm ein französischer Herpetologe aufzeigte, dass die beiden mehr zufällig von dem Kapitän der Beagle Fitzroy mitgebrachten Schildkrötenschlüpflinge unterschiedlich zu jenen aus dem indischen Ozean waren.
Als Darwin noch auf der Beagle war, sammelte und vor allem beschriftete er seine Belegexemplare noch nach der Manier der Kreationisten, die ja jede Lebensform als unveränderbar geschaffen ansahen. Auch unterlag Darwin damals noch einem Irrtum der Systematik, was wahrscheinlich mit ein Grund war, warum er selbst keine Belegexemplare von Schildkröten sammelte. Denn damals waren die Riesenschildkröten der Galapagosinseln als „Testudo indicus“ beschrieben, und man ging davon aus, dass sie von den Inseln im indischen Ozean eingeschleppt worden waren. An diesen Beispielen wird eigentlich klar, was die eigentliche Leistung von Darwin war, als er seine Evolutionstheorie in seinem Buch On the Origin of Species zum Ausdruck brachte. Er war nicht der genuine Systematiker und akribische biologische Analysator seiner Zeit, da waren seine genuinen Interpretationen und Beschreibungen seiner geologischen Befunde und Daten wesentlich besser. Denn seine wahre Leistung bezogen auf die Evolutionstheorie ist wohl eher darin zu sehen, dass er sich im Gegensatz zu vielen seiner wissenschaftlich akribisch und systematisch arbeitenden Zeitgenossen den dabei anfallenden wissenschaftlichen Fakten gegenüber öffnen konnte und sich dabei – wenn auch schweren Herzens – vom „Zeitgeist“ freimachen konnte, also von der gesellschaftlich akzeptierten Denkweise und dem Geist seiner Zeit.
Gleiche Einflüsse des Zeitgeists erleben wir auch noch heute in der Wissenschaft (z. B. Rieppel & Kearney 2007, Kommentar zu: Freedberg et al. 2008) und, was diesem Leserkreis wohl eher geläufig sein dürfte, auch manchmal bei uns Schildkrötenliebhabern. Sicherlich ist es für einen in einer bestimmten Gemeinschaft oder Interessensgruppe gut integrierten und sozialisierten Mitmenschen nicht nur angenehmer, sondern auch wesentlich leichter im alltäglichen Miteinander, wenn man sich der Denkweise und Meinung der Mehrheit anschließt. Auch das hat sein Gutes, zumindest so lange der allgemein akzeptierte Zeitgeist der Realität entspricht. Aber überlegen Sie einmal selbst, wie viele vielleicht sogar beleidigende Forendiskussionsbeiträge von Moderatoren schon gelöscht oder mit „entschuldigenden“ oder distanzierenden Anmerkungen versehen wurden, bloß weil sich jemand zu etwas äußerte, was eben nicht dem von der Mehrheit gebilligten, derzeitigen Zeitgeist bezüglich der Schildkrötenhaltung entsprach, obwohl es gute belastbare Fakten und Daten für diese „andere Meinung oder Sichtweise“ gab.
Obwohl wir oft die Beschäftigung mit der Historie damit rechtfertigen, dass man aus der Geschichte etwas lernen könne, glaube ich, dass dieses Lernen aus der Geschichte nicht gerade unsere Stärke ist, sonst würden sich solche und deshalb bezeichne ich sie einmal als „menschliche Probleme“ nicht ständig wiederholen. Trotzdem denke ich, sollten wir uns vielleicht als guten Vorsatz für das nächste Jahr vornehmen zu versuchen, mit den Fakten bezüglich unterschiedlicher Meinungen offener miteinander umzugehen. Nutzen wir die besinnlichen Tage und philosophieren wir einfach einmal darüber – Wie viel Dogmatik braucht eine Welt, in der die systemimmanente Wirklichkeit und der menschliche Erkenntnisstand und Zugewinn einem Wandel unterliegen?

Literatur

Freedberg, S., T.-J. Greives, M. A. Ewert, G. E. Demas, N. Beecher & C. E. Nelson (2008): Incubation environment affects immune system development in a turtle with environmental sex determination. – Journal of Herpetology 42(3): 536-541 oder Abstract-Archiv.

Rieppel, O. & M. Kearney (2007): The poverty of taxonomic characters. – Biology & Philosophy 22(1): 95-113 oder Abstract-Archiv.

Saenz-Arroyo, A., C. M. Roberts, J. Torre, M. Carino-Olvera & J. P. Hawkins (2006): The value of evidence about past abundance: marine fauna of the Gulf of California through the eyes of 16th to 19th century travellers. – Fish and Fisheries 7(2): 128-146 oder Abstract-Archiv.