Köhlerschildkröte, Chelonoidis carbonaria, – © Hans-Jürgen Bidmon

Wilkinson - 2012 - 01

Wilkinson, A. & L. Huber (2012): Cold-Blooded Cognition: Reptilian Cognitive Abilities. – in: Vonk, J. & T. K. Shackelford (Eds.): The Oxford Handbook of Comparative Evolutionary Psychology – Oxford University Press 129-143.

Kaltblütiges Bewusstsein: Kognitive Fähigkeiten von Reptilien.

DOI: 10.1093/oxfordhb/9780199738182.013.0008 ➚

Köhlerschildkröte, Chelonoidis carbonaria, – © Hans-Jürgen Bidmon
Köhlerschildkröte,
Chelonoidis carbonaria,
© Hans-Jürgen Bidmon

Reptilien, Vögel und Säugetiere evolvierten sich aus einem gemeinsamen amniotischen Vorfahren, und es ist sehr wahrscheinlich, dass sie gemeinsame Verhaltensweisen und morphologische Charakteren teilen. Gleichzeitig hatten sie seit der Abspaltung von diesem gemeinsamen Vorfahren, vor etwa 280 Millionen Jahren, genug Zeit, sehr unterschiedliche, eigenständige Fähigkeiten und Eigenschaften zu entwickeln. Um nun ein vollständigeres Verständnis über die Evolution von kognitiven Fähigkeiten zu erlangen ist es essentiell auch die kognitiven Fähigkeiten von Reptilien in vergleichbarer Weise zu jener von Vögeln und Säugern zu untersuchen. Obwohl die grundlegenden Mechanismen zum kognitiven Verhalten von Reptilien noch nicht verstanden sind, gab es bei den jüngst dazu durchgeführten Forschungsarbeiten einige bemerkenswerte Fortschritte. Dieses Kapitel gibt einen Überblick über die Literatur und die Aneignung neuer Verhaltensweisen für eine Bandbreite von Reptilienarten, die auf räumlichen, visuellen und sozial-kognitiven Fähigkeiten beruhen. Wir interpretieren die derzeitigen Erkenntnisse auf der Basis der Grundlagen, die über kognitive Prozesse bekannt sind und den dazugehörigen Mechanismen, wie sie für Säugetiere und Vögel erarbeitet wurden. Zuletzt diskutieren wir die Notwendigkeit dieser speziell an Reptilien durchzuführenden Arbeiten und ihren Beitrag zur Vervollständigung unseres Verständnisses zur kognitiven Evolution.

Kommentar von H.-J. Bidmon

Hierbei handelt es sich um einen guten Überblick, der einem grundlegende Einblicke liefert, der aber, wie ich meine, auch zeigt, wie im positiven Sinne ausgedrückt „unsinnig die reine Kognitionsforschung“ eigentlich ist. Das heißt nicht (deshalb im positiven Sinne), dass man sie nicht durchführen sollte, denn nur dadurch lernen wir ja eigentlich erst, wie unsinnig reine abstrakte Kognitionsforschung an einzelnen Arten ohne Einbezug von deren Lebensraum (im weitesten Sinne Umwelt) ist. Denn was wir heute schon klar erkennen ist doch, dass Kognition eine wesentliche Form von Umweltanpassung darstellt (Richardson 2012). Ja wir lernen sogar, dass auf bestimmten Entwicklungsstufen mögliche kognitive Möglichkeiten genauso wie morphologische Charakteristika sehr wahrscheinlich aus energetischen Gründen nicht ausgebildet oder gar zurückgebildet werden, wenn sie in einer bestimmten Umwelt nicht gebraucht werden. Bei den morphologischen Charakteristika wird uns das offensichtlicher, wenn wir an blinde Fische, Nacktmulle, Grottenolme, beinlose Echsen, bzw. Walfische (Säuger) denken, während im umgekehrten Fall Maulwurf und Maulwurfsgrille – obwohl phylogenetisch weit voneinander entfernt – sehr ähnliche funktionale Grabschaufeln als Lebensraumanpassung ausbilden. Im eigentlichen Überlebenssinn ist das für die betroffenen, z. B. blinden Tiere auch kein Verlust, denn sie nutzen oft die dadurch frei gewordenen Ressourcen, um andere Strukturen und (kognitive) Verhaltensweisen so zu optimieren, dass sie in ihrer dunklen Umwelt wesentlich bessere Orientierungs- und Überlebensmöglichkeiten bieten. Bei den Verhaltensweisen und der damit verbundenen Kognition ist es ähnlich, denn wie anders sollte man die Sinnesleistungen und Orientierungsleistungen von z.B. Elefanten, Buckelwalen, Zugvögeln, Meeresschildkröten, Köhlerschildkröten, Fröschen, Molchen (Laichwanderungen) und Lachsen oder Aalen interpretieren? Ja selbst Insekten wie die Monarchfalter oder Bienen und etliche andere auch können das, weil in ihrer Umwelt ihr Überleben davon abhängt. Und letztendlich müssen wir auch erkennen, dass dazu noch nicht einmal das, als ach so hochentwickelt eingeschätzte Säugetiergehirn notwendig ist, denn diesen niederen Tieren fehlen bestimmte Strukturen und sowohl das Vogelhirn als auch das Insektenstrickleiternervensystem unterscheiden sich in ihrer Struktur und Organisation gravierend vom Gehirnaufbau der Säuger. Umgekehrt ist es, wenn wir auf die Ebene der Zellen gehen: Denn sowohl bei Bakterien und Blaualgen finden wir schon Ionenkanäle in der Zellmembran, wie wir sie von hochentwickelten Nervenzellen von Säugern einschließlich des Menschen kennen. Da gibt es lediglich vergleichsweise geringe artspezifische Unterschiede in der Aminosäurezusammensetzung und ihre ionenselektive Funktion ist dennoch gleich geblieben (Changeux 2013, Corringer et al. 2012). Ja, sie sind sogar so gleich geblieben, dass selbst für uns Menschen die Nesselgifte mancher Quallen tödlich sind, obwohl diese Quallen ihre Ionenkanalselektiven-Gifte schon evolviert hatten, als es uns noch gar nicht gab. Vielmehr war und ist es so, dass wir in unserer Evolution an diesen evolutiven Erfolgserrungenschaften der Einzeller und frühen Vielzeller nichts geändert haben und unsere Zellen auf Einzelzellebene immer noch so funktionieren wie eh und je. Auf der Ebene der zellulären Neurotransmission funktionieren unsere Nervenzellen genau wie die der Taufliege Drosophila. Wir haben unsere Zellen nur in bestimmten Zellverbänden sprich Organen in einer, wenn man so will, höheren oder besser anderen Organisationsstruktur organisiert. Ich bin der Meinung, dass vielleicht in Anlehnung zu den Erhaltungssätzen in der Physik der Erhaltungssatz für belebte Materie wie folgt lauten könnte: „Belebte Materie ist auf allen ihrer Organisationsebenen immer so organisiert wie im „Richtigen Leben“ und deshalb verhält sie sich auch auf all ihren Organisationsebenen immer so wie im „Richtigen Leben“ (wobei ich „Leben“ als eine Energieform ansehe). Deshalb denke ich, dass Kognition nichts anderes als Umweltanpassung zum Erhalt des Erbguts darstellt. Das mag sich für so manche/n zu Emotionen befähigte Krönung der Schöpfung als zu banal darstellen! Was wir aber auf allen Ebenen sehen ist der uneingeschränkte Versuch zur Reproduktion und Weitergabe der DNS und alle auch uns als moralisch geprägten, sozialen Menschen noch so grausam erscheinenden Verhaltensweisen im Pflanzen- und Tierreich haben nur ein Ziel, nämlich den Fortbestand dieser sich in unseren Augen so verhaltenden Lebewesen zu sichern (DNS-Erhaltung). Selbst Viren und Bakterien verhalten sich so. Da Energieeffiziens und -optimierung immer eine der existenzbedrohen Größen im Evolutionsgeschehen von Lebewesen ist, gehört zur Umweltanpassung auch dazu, auf alles zu verzichten, was mehr Energie verbraucht als notwendig ist. Unter diesem Aspekt verzichten Lebewesen unabhängig von ihrer phylogenetischen Stellung sowohl auf morphologische Errungenschaften wie auch auf kostspielige Verhaltensweisen. Nur dort, wo man sich genug Ressourcen verschaffen kann, können sich auch große, meist sozial organisierte Lebensformen entwickeln, die allein schon um die soziale Interaktion realisieren zu können, sogenannte höhere kognitive Leistungsfähigkeit entwickeln – aber nur so lange sie dazu beiträgt, einen Selektionsvorteil für das eigene (durchaus auch individuelle) Erbgut zu gewährleisten. Selbst über uns Menschen lernen wir aus unserer Geschichte nichts anderes. Als es bei den Inuit, den Ureinwohnern Alaskas noch keine Supermärkte gab und im Winter die Nahrung ausging, gingen die Alten freiwillig ins Eis, damit die wenigen verbliebenen Vorräte, das Überleben der Kinder und Enkel gewährleisteten (wie grausam und unmoralisch?). Bei uns in Deutschland können wir es uns momentan ressourcenmäßig leisten, dass bei jeder Nullrunde der Renten die Grauen Panter protestieren, aber auch hier bleibt die Frage, ob sich das unsere Enkel dann auch noch leisten können? Auch Hochkulturen sind in der Geschichte der Menschheit schon zusammengebrochen, so z.B. als der fruchtbare Nilschlamm, der bei den alljährlichen Überschwemmungen die Felder düngte, ausblieb und Hungersnöte (Energie- oder Ressourcenmangel) die Errungenschaften der ägyptischen Hochkultur im Chaos versinken ließ. Selbst heute verheißen die Prognosen zum Klimawandel nichts anderes, und wo sich die Wüstengürtel ausbreiten, müssen die Menschen in andere noch das Überleben ermöglichende Regionen abwandern. Letzteres gilt in letzter Konsequenz für das Lebewesen Homo sapiens genaus wie für alle anderen Spezies. Entweder wir schaffen es, uns morphologisch, wie physiologisch und auch verhaltensmäßig (kognitiv) der Dürre anzupassen, oder wir müssen abwandern. Was das im Einzelnen bedeuten mag ist ein weites Feld für Spekulationen, aber die Evolution wird weitergehen, und wie uns die Erkenntnisse der Paläontologen, Archäologen, Klimatologen und Historiker und Evolutionsbiologen aufzeigen, ist das für diesen Planeten Erde ganz gewiss nichts „Neues“. In diesem Sinne sollten wir uns fragen, ob wir nicht mehr „angewandte Naturphilosophie“ bräuchten, die uns die globalen Zusammenhänge klarmacht, als die reine Kognitionsforschung? Wobei ich dazu sagen sollte, dass beide, Kognitionsforschung wie auch Philosophie, auch nur dort gedeihen können, wo entsprechende Ressourcen vorhanden sind. Denn wenn es hart auf hart ums Überleben geht, treten meist wesentlich mehr auf die Überlebenspraxis bezogene Forschungsthemen, im Sinne von zu optimierender Lebensraumanpassung und -erschließung in den Vordergrund.

Literatur

Changeux, J. P. (2013): The concept of allosteric interaction and its consequences for the chemistry of the brain. – Journal of Biology and Chemistry 288(38): 26969-26986.

Corringer, P. J., F. Poitevin, M. S. Prevost, L. Sauguet, M. Delarue & J. P. Changeux (2012): Structure and pharmacology of pentameric receptor channels: from bacteria to brain. – Structure 20(6): 941-956.

Richardson, K. (2012): Heritability lost; intelligence found. Intelligence is integral to the adaptation and survival of all organisms faced with changing environments. – EMBO reports 13(7): 591-595; DOI: 10.1038/embor.2012.83 ➚.

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